Dienstag, 11. Januar 2011

Eins sein

Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
           Hermann Hesse

Jede Reise ist eine Reise zu sich selbst, was denn sonst. Wir koennen schliesslich die Welt nur mit unseren Sinnen und unserem Geist aufnehmen.
Und wie sieht diese Reise in mir drinnen zur Zeit aus?

Mir scheint alles zu fehlen, was mich in den letzten 60 Jahren gluecklich machte: Meine Familien -zuerst die Elternfamilie und spaeter die eigene Familie - die Freunde, die Bekannten, meine Verpflichtungen, meine Rollen, die ich zu spielen hatte und vieles andere wichtige mehr. Ich fuehle mich besonders nachts einsam, ungluecklich, und den Tag ueber verunsichert und labil.  Schon kleine Ungereimtheiten bringen mich aus der labilen Ruhe und machen mich nervoes. Der Nachtpart ist der schwierigere. Dass ich selber auch jemanden bin, autonom, souveraen, selbstsicher ... das was ich ebenfalls 60 Jahre lang entwickelt habe, dieses Gefuehl der Sicherheit ist mir etwas - etwas sehr - abhanden gekommen. Es scheint, als ob ich nur jemanden sein kann in meiner eigenen Umgebung.

Und was ich darueber denke: Abgesehen von einer einzigen unbedeutenden Ausnahme besteht die Welt aus Anderen und Anderem, gerade dadurch dass ich ein Individuum sein will. Ich bin im Grunde genommen immer einsam, getrennt von allem und allen. Solange ich ich bin, ein Individuum, bin ich abgetrennt und einsam. Ich will einerseits eine individuelle Persönlichkeit sein, und gerade dann, wenn ich das am ungebundensten sein kann, wenn ich mich löse aus meinem Beziehungsnetz und meinen Rollen, bin ich unglücklich, weil ich einsam bin. Das heisst: Liebe Familie, liebe Freunde, ich benutzte euch alle zu meinem seelischen Gleichgewicht, ich missbrauchte euch. Das wirft ein schraeges Licht auf meine Persönlichkeit, oder? Und es wirft ein schraeges Licht auf mich, wenn ich mich ohne euch als unvollkommen fühle. Aus Unvollkommenheit habe ich geheiratet, treffe mich mit Freunden, lasse mich unterhalten, damit ich nicht zugestehen muss, dass ich kein autonomer Mensch bin, einsam waere ohne euch. Und hier, auf der anderen Seite der Kugel, in Tuk Tuk auf Sumatra kann ich meiner Unvollkommenheit nicht mehr ausweichen. Diese Konfrontation ist hart, eine Art Verzweiflung an meiner Einsamkeit, weil ich nicht einsam sein kann.

Ich denke: Allen Menschen geht es so wie mir jetzt, irgendwann. Allein sein, wirklich allein, empfinden wir als unerträgliche Leere. Man vertreibt diese, indem man sich an Menschen hängt, arbeitet, Fernseh glotzt, Yoga macht, Drogen konsumiert, was auch immer. Wenn das nicht mehr vorhanden ist, kommt die Leere, ja, liebe Leute, wer der Leere ausweicht, wie ich es getan habe, den holt sie einmal wieder ein, und irgendwann kann man ihr nicht mehr entkommen. Wo Erfolg, Überlegenheit, Selbstsicherheit war, ist sehr schnell die peinliche Schale eines Menschen, der mit sich allein schlecht auskommt. Der sich selbst nicht helfen kann und sich wortwörtlich unbeholfen vorkommt. Nur ich kann mir jetzt helfen, mit mir gluecklich zu werden, eins zu werden, statt einsam. Kennst du das auch, oder nicht, oder noch nicht? Wie finde ich meine Einheit? Das ist die Frage der naechsten Tage. Fortsetzung folgt ...

Im Nebel
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unenntrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
           Hermann Hesse